Die Kirche braucht die Expertise von "außen", auch jene von Nichtgläubigen, um die Welt besser zu verstehen - und das gilt derzeit auch für das Streitthema Migration: Das war laut der inhaltlich verantwortlichen Wiener Theologin Regina Polak das Anliegen hinter dem Expertenhearing zu "Kirche in der Gesellschaft", das im Rahmen des "Zukunftsforum3000" der katholischen Kirche in Österreich am Freitag in Wien derzeit heiß diskutierte Themen aufgriff. Fachleute aus Wissenschaft und Politik diskutierten dabei ein kirchliche Thesenpapier, das Polak gemeinsam mit Kirchenvertretern wie Caritas-Generalsekretär Bernd Wachter, Sozialethikerin Ingeborg Gabriel, dem Theologen Martin Jäggle und Magdalena Holztrattner von der Katholischen Sozialakademie erarbeitet hatte.
Politikwissenschaftlerin Sieglinde Rosenberger bemerkte zur Sichtweise von "Migration als Chance", dabei dürften nicht die Probleme ausgeblendet werden, die mit Fluchtbewegungen und Zuwanderung eben auch verbunden seien. Um ein gesellschaftlich brisantes Thema glaubwürdig aufzugreifen, müssten diese Probleme vielmehr konkret angesprochen und diskutiert werden. Das bewähre sich etwa im Blick auf politische Gemeinden, wo Flüchtlinge nicht nur Aufnahme fanden, sondern wo es auch eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema gab: Laut Rosenberger zeigte sich bei jüngsten Urnengängen, dass dort die Anfälligkeit für rechtspopulistische Parolen deutlich geringer ist als in Gemeinden ohne Asylwerber und öffentliche Debatte.
Neben der Wiener Politikwissenschaftlerin folgten der Einladung der organisatorisch verantwortlichen Katholischen Aktion Österreich (KAÖ) auch Experten wie Nahost-Experte Thomas Schmidinger, Alexander Pollak von "SOS Mitmensch", Kenan Güngör vom Büro für Gesellschafts- und Organisationsentwicklung, der Theologe Christian Friesl von der Industriellenvereinigung (IV), die Abg.z.NR. Alev Korun (Grüne) und Petra Bayr (SPÖ), sowie Vertreter von Islam und evangelischer Kirche. Als katholische Fachleute waren u.a. die Ordensvertreter Sr. Beatrix Mayrhofer und Christian Haidinger, Laienratspräsident Theo Quendler, Pfarrer Helmut Schüller sowie neben KAÖ-Präsidentin Gerda Schaffelhofer viele Vertreter von Organisationen der Katholischen Aktion präsent.
Schaffelhofer warnt vor "Selbsttäuschungen"
Schaffelhofer wies eingangs auf zwei "Selbsttäuschungen" hin, die die politischen und sozialen Entwicklungen der jüngsten Zeit entlarvt hätten: Unhaltbar sei die Ansicht geworden, in Europa könnten die Früchte der Globalisierung unbehelligt von deren Verlierern genossen werden. Alle Versuche, sich abzuschotten, seien zum Scheitern verurteilt.
Fehl geht laut Schaffelhofer außerdem, wer meine, sich angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und seinen Werte ersparen zu können. Die KAÖ-Präsidentin betrachtet, wie sie sagte, Migration als "Spiegel" für gesellschaftliche Probleme, als "Sehhilfe" und "Lernort". Als Ziel des Hearings nannte sie es, Impulse zu erarbeiten, die "Zuversicht statt Angst" und "Gemeinsamkeit statt Abgrenzung" fördern.
Das von Regina Polak und den genannten Fachleuten vorgelegte Thesenpapier sieht als Anstöße für die Kirche beim Thema Flucht und Migration u.a. politische Anwaltschaft und Einsatz für eine Kultur der Anerkennung und Wertschätzung vor, weiters begleitende Seelsorge für alle Betroffenen sowie Förderung von Begegnung, Zusammenleben und Nachbarschaft - und, darüber hinausgehend: das Hinterfragen eines westlichen Lebensstils, der Mitursache von Fluchtbewegungen sei.
Stimmung in Gesellschaft "kippt"
All dies klinge sehr positiv und auch "normativ", so Sieglinde Rosenberger in ihrem Feedback. Es stelle sich dabei die Frage, mit welchen Instrumenten die Kirche solche Ergebnisse erzielen wolle und mit welchen Koalitionsparrtnern.
Die Politikwissenschaftlerin sieht derzeit eine Phase, in der die Stimmung in der Gesellschaft "kippt": weg von der noch im Sommer großen Solidarität zu einer immer größeren Abgrenzungsbereitschaft. Dabei spielten die Medien ebenso eine Rolle wie politische Akteure, aber auch Flüchtlinge selbst, die im Zusammenhang mit Terror und Gewalt auffällig werden.
Brisanz erwartet Rosenberger durch den Umstand, dass jetzt - auch wenn die EU beim Thema Flucht in die Pflicht genommen werde - soziale Netze auf nationalstaatlicher Ebene gelockert werden. Es zeige sich, dass hochentwickelte Sozialstaaten wie Dänemark in Bezug auf Flüchtlinge restriktiver agierten als Länder mit wenig sozialer Absicherung.
Alle, die schon vor Jahren vor einer "Festung Europa" warnten, hätten Recht behalten, stellte Christian Friesl, in der IV verantwortlich für Bildungs- und Gesellschaftsfragen, ernüchtert fest. Da Zuwanderungswellen mittelfristig anhalten würden, müsse die Politik ein bisheriges Versäumnis beheben, nämlich ein stimmiges Bild entwerfen, wie eine Gesellschaft mit großer Divergenz aussehen kann. Derzeit dominierten hier nur Bedrohungsszenarien, so Friesl.
Auch Thomas Schmidinger rechnet mit anhaltend hoher Migration durch Krisenherde. Derzeit gebe es die größte Flüchtlingskatastrophe seit dem II. Weltkrieg, daran werde sich auch 2016 nichts ändern. Der Nahost-Experte wandte sich gegen die Vermischung von Wirtschaftsflüchtlingen mit jenen von der Genfer Flüchtlingskonvention definierten - letztere müsse als menschenrechtlicher "Mindeststandard" abgesichert werden.
Grün-Parlamentarierin Alev Korun wies darauf hin, dass diese Vermischung vor allem seitens der Rechtspopulisten erfolge, nach dem Motto: "Eigentlich sind eh alle Wirtschaftsflüchtlinge." Sie fordert eine "mutige Politik" ein, die zugibt: Ja, es gibt Migration, und sie wird die Gesellschaft auch verändern. Ein Blick ins Wiener Telefonbuch mit vielen Namen aus dem Slawischen zeige, dass Zuwanderung a la longue kein Schaden sein müsse.
Kirche kann vertrauensbildend wirken
Anhaltenden Einsatz für eine "Willkomenskultur" durch die Kirche erhofft sich "SOS Mitmensch"-Sprecher Alexander Pollak. Auch solle sie weiterhin zu privater Hilfe für Heimatvertriebene motivieren - als Gegenpol zur derzeitigen "Abgrenzungsspirale" auf politischer Ebene, die immer deutlicher "unmenschliches Handeln" legitimiere.
Wie selektiv Multikulturalität wahrgenommen werde, zeigte Frauenordens-Präsidentin Sr. Beatrix Mayrhofer auf: Für polyglotte International Schools werde viel Schulgeld bezahlt, Schulen mit "hohem Migrationshintergrund" etwa im 15. Wiener Bezirk dagegen geschmäht. Die katholische Kirche verfüge gerade auf Ordensebene über viel Tradition im Umgang mit kultureller Vielfalt, und sie wisse, dass Menschen neben der heute eingeforderten Mobilität auch Stabilität bräuchten.
Neben zuversichtlichen und ausgrenzenden Extrempositionen gibt es beim Flüchtlingsthema auch eine große Mittelschicht in der Bevölkerung, die sich "in Bewegung" befindet, wies Werteforscher Paul Zulehner auf eine von ihm durchgeführte Online-Befragung unter 3.000 Personen hin. Dieser Mitte sollte mehr Aufmerksamkeit gelten, etwa durch den Abbau der heute so unübersehbaren "Angstlandschaften" in Europa. Moralappelle seien dabei sinnlos, vielmehr müsse durch eine ursachensensible Politik Vertrauen gestärkt werden, um dem Populismus und seinen argumentativen Schnell-Schüssen widerstehen zu können. Die Kirchen sollten der Angst vor Islamisierung mit Begegnungsorten begegnen, wo durch Kontakt Vertrauen entstehen kann.
Das Expertenhearing soll mit Handlungsperspektiven für die Kirche enden, über die die Katholische Aktion am Wochenende informieren will.
Wien, 29.1.2016
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